Viktor Pedak - Mein Fluchtreise-Tagebuch

 

Der ukrainischen Journalist Viktor Pedak, geboren 1938, in der ukrainischen Stadt Saporoshje, hat nach dem verheerenden 2. Weltkrieg die Völkerverständigung zwischen OST und West zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Jetzt ein Flüchtling.

"Mein Fluchtreise-Tagebuch

Am Mittwoch, den 4.März 2022 sollte ich in München im Wissenschaftsministerium sein. Wegen meiner Arbeit über Schicksale von ehemaligen ukrainischen Bürgern, die während des 2. Weltkrieges nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurden und für meinen Beitrag zu Völkerverständigung zwischen Deutschen, Ukrainern und Russen im Krieg und nach der Kriegszeit erhielte ich diese Einladung. Das war am 21 Februar. Und für den Sonntag, den 27. Februar, hatte meine Tochter die Flugtickets gebucht.

Wegen vielen Gesundheitsbeschwerden  wollte meine Frau Lidija, 82 Jahre alt, in diesem Jahr nicht nach Deutschland fliegen, aber nach dieser Einladung war sie auch einverstanden. Wir packten schnell unsere Sachen. Aber wie sagt man, der Mensch denkt und Gott lenkt.

 Am Tag danach schickte die Tochter eine SMS-„Wir sind zu spät. Russland hat Ukraine angegriffen“.

Und im Nu hat sich das Leben geändert. Erste Sirenen, die Alarm gerufen haben, und in Luftschutzbunker zu verstecken aufforderten, ertönten. Nur einmal benutzten wir diesen Bunker. Wir wohnten auf der 9-ten Etage und während des Alarms wurde der Fahrstuhl abgeschaltet und zu Fuß runter gehen brauchte ich 20 Minuten. Bei nächsten Alarmen blieben wir in der Wohnung, lagen im Bett unter Decken, als ob nichts geschehen wäre. Noch zwei weitere alleinstehende alte Frauen auf der 7-ten Etage waren in dieser Lage in unserem Eingang. Alle hofften nur auf ein Wunder.

Mein Jahrgang ist 1938. Als Kind habe ich den 2. Weltkrieg erlebt. Am 14. Oktober 1943 schon nach der Befreiung Saporoshje von Wehrmachttruppen durch die Rote Armee spät am Abend fing an die Feinderartillerie die Stadt zu beschießen. Der Opa rief: “Schnell, alle raus!“ Im Garten hat er ein Graben ausgegraben, wo wir bei Beschuss uns verstecken konnten. Meine älteste Schwester, sie hieß Tamara, zärtlich Tamarotschka,  ein 9 jähriges Kind wollte Ihre Schuhe unterm Bett holen. Aber in diesem Moment traf ein deutsches Geschoß direkt in unser Elternhaus. Das Schwesterchen war gleich tot, meine Mutter und ich wurden verwundert, von Ziegelsteinen zugeschüttet und mussten lange in einem Krankenhaus bleiben. Das Schwesterchen wurde in unserem Garten und später nach unserer Entlassung auf einem städtischen Friedhof beerdigt.

Daran erinnerte ich mich, als ich im Bett unter den Decken lag und dachte, ob mich in meinem  Alter von 83 Jahren dieses Schicksal, unter Betonblöcken zugeschüttet zu sein, auch erwartet.

Nicht so weit von unserem Wohnblock in einem Einfamilienhaus wohnt meine junge Schwester Ljuba, geb. 1946 , mit Ihrer  Familie. Sie hat uns eingeladen wegen der größeren Gefahr in unserem 9-stöckigen Wohnblock zu Ihrer  Familie zu ziehen. Wegen der möglichen Gefahr der Plünderung wollte meine Frau vorerst zu Hause bleiben.

Dann aber schickte die Tochter eine sehr alarmierende Nachricht. “Mutti, jetzt kämpft man schon um Wasiljewka. Das ist ganz in der Nähe von Euch. Um Gottes Willen, wenn eine Bombe  in Ihr Haus trifft, habt ihr keine Chance sich zu retten. Ich bitte Dich, flehe mit allem was mir heilig ist, zieht zu Tante Ljuba um. Solange Du lebst, fühle ich mich noch wie ein Kind. Ich möchte nicht erwachsen werden“.

Diese Zeilen gaben den Anstoß der Änderung in unserer Entscheidung. Erst zogen wir zu meiner Schwester um, dann nach ein paar Tagen der Erholung machten wir uns auf den weiteren Weg.

Am 01-ten März der erste Versuch. Uns begleitete unser Schwager Sergej und sein Sohn Sascha. Gegen 10 Uhr waren wir in der Nähe vom Bahnhof. Die Schlange war noch nicht so groß. Langsam setzte sie sich in Bewegung, in 2 Stunden waren wir auf dem Bahnsteig. Der Zug stand schon da.  Aber die Menschenmenge!! Es war auf dem ganzen Bahnsteig zu hören, wie eine Frau schrie. Eine wilde unmenschliche Stimme! Später erfuhren wir, dass zwei Kinder von ihr, der 11- und 13-jährige Jungs sind über die Menschenmenge in den Waggon geklettert, und die Mutter blieb draußen auf dem Bahnsteig und konnte wegen der Menschenmenge nicht rein.

Ich habe keine Ahnung, was mit den beiden Jungs und der Mutter passierte. Mein Neffe sagte: Onkel Vitja, wir müssen nach Hause. Hier werden wir nicht durchkommen. Ich war einverstanden. Wir fuhren zurück. Nach 2 Tagen Erholung hörten wir noch schlechtere Nachrichten: die russischen Okkupanten eroberten Saporoshjer Atomkraftwerk. Das ist der größte Atomkraftwerk Europas. Die Ukraine hatte ja im Jahr 1986 die Tragödie von Tschernobyl erlebt und viele leiden bis heute noch an dem Folgen der Katastrophe.

Unter der Zivilbevölkerung verbreitete sich die Panik. Spät am Abend rief eine alte Bekannte, ihre Tochter lebt seit langem in Schweden. Sie fragte: „Fahrt Ihr morgen zum Bahnhof?“ Wir verabredeten uns am Bahnhof zu treffen. Zusammen ist es sicherer in die Ferne zu reisen.

Diesmal war die Schlange ein paar Male länger als beim ersten Mal. Unsere Bekannte ist jünger als wir und ihr ist es gelungen in den Zug einzusteigen, aber ihr Zug fuhr nach Lemberg, Westukraine. Und von da musste sie vielmals umsteigen, um  nach Schweden zu kommen. Wir blieben wieder am Bahnhof. Es wurde kälter, wir mussten wieder zurück zu meiner Schwester.

Der 7. März, Montag, am nächsten Morgen hat unser älteste Enkelkind Christoph Geburtstag. Er wurde 15 Jahre alt. Und heute machten wir noch ein Versuch, der dritte. Ich halte einen winzigen Hocker, Länge und Breite ca. 25 cm und Höhe ca. 30 cm, auf dem Hals habe ich eine gelbe Tasche aufgehängt. Diese Tasche habe von einem Karnevalszug in Rösrath aufbewahrt. In großen Buchstaben steht da drauf „ALAAF“. Und unten kleine Werbung „Ihr Erdgas“.

Mit dieser Tasche habe ich viele Kamellen gesammelt. Ich habe oft gerufen: „Kamelle, für die armen Kinder in der Ukraine!“  Damals war das sehr lustig. Und jetzt liegt da ein warmes Hemd und ein paar Handschuhe. Ich bin ein Flüchtling.

Noch ein Abschied, jetzt schon der dritte, von meiner Schwester. Wir sind schon im Auto,  und in diesem Moment höre ich höllischen Lärm über dem Kopf- ein russisches Flugzeug! Zum Glück flog er weiter, ohne zu schießen.

Wir fahren zum Bahnhof durch die Hauptstraße. Der letzte Blick, entlang des Prospekts stehen die Plakate, wo geschrieben ist, „1941- deutsche Okkupanten, 2022- russische Okkupanten!“

Schon von weitem sehen wir eine riesige Schlange vor dem Bahnhof, viel, viel länger als bei unseren vorherigen Versuchen. Ich finde eine Ecke, wo es nicht zieht, setze mich auf meinen Hocker und so bewege ich mich weiter in dieser Schlange fort. Uns begleitet der Mann meiner Schwester. Er trägt eine Reisetasche, meine Frau trägt einen kleinen Rucksack und passt auf mich mit meinem Hocker  und gelben Tasche  auf.         

Ich muss zugeben, dieses mal war die Evakuierung der Zivilisten viel besser organisiert als bei unseren zwei vorherigen Versuchen. Auf die Menschen warteten zwei Züge- der erste fuhr Richtung Lemberg, der zweite - Richtung Chelm in Polen.  Und die Schlange wurde geteilt. Wir wollten nach Polen kommen.     

Als wir schon in dieser Schlange standen, waren schon fast alle Wagons voll. Nur in dem letzten Wagon konnten noch Frauen und Kinder einsteigen. Wir waren die letzten in dieser Schlange. Ein Soldat aus der Ortsabwehr mit einer Maschinenpistole hat auf meine Gehstöcke geschaut und uns erlaubt in dieser Schlange zu sein.

Endlich sind wir an diesem letzten Wagon. Als erster stieg ich mit meinen Gehstöcken ein, dann half Sergej meiner Frau Lidija einzusteigen. Der Schaffner guckte auf mich, auf meine Gehstöcke und fragte: „Wo willst Du hin, Opa, der Wagon ist voll, kein freier Platz mehr. Das schaffst Du nicht!“ In diesem Moment rief meine Frau : “Wir haben einen Hocker!!!“ Der Schaffner schaute auf meinen winzigen Hocker, den Lidija ihm zeigte und  meinte: „Aber ihr seid ja zu zweit.“ Meine Frau entgegnete ihm: „Aber wir wechseln uns ab.“ Vielleicht hatte der Schaffner Mitleid mit uns aber er sagte „Gut, geht Ihr.“

Wir waren endlich im Wagon. Sergej stellte unsere Reisetasche ab, er selbst musste schnell weg.  In Eile konnten wir uns nicht richtig verabschieden. Der Zug machte sich schon in Bewegung.

Montag, der 7-te März  11:00 Uhr. Wir fahren!! Der Schaffner guckte mich an, mit meinen Gehstöcken, dieser Tasche auf dem Hals und sagte noch einmal: „Wo willst du hin, Opa? Das schaffst Du nicht“.

Mit großer Mühe drängte ich mich nach vorne zu meiner Frau. Keinen freien Platz  in den Abteilen waren zu sehen. Es war sinnlos vorne einen freien Platz zu suchen. Wir hielten an. Dann zählte ich unsere Sachen. Es fehlte eine große Reisetasche. Ich blieb stehen, meine Frau musste sich zurück zu dem Eingang durch die Menschenmenge drücken. Zum Glück war die Tasche am Eingang, wo Sergej sie abgestellt hat.

Wir waren noch im Durchgang mit unseren Sachen. Dann habe ich mich in Ruhe umgeschaut und sah in einem Abteil  in der Nähe von uns auf dem unteren Regal drei Frauen, etwas jünger als meine Frau, leicht korpulent. Zwischen Ihnen lag ein gutgepflegter Hund, ein Pudel, später erfuhr ich, es hieß Dodo. Ich habe höflich gebeten, ein bisschen Platz für meine Frau zu machen. Die junge Frau nahm den Hund auf den Schoß und meine Frau konnte sich endlich hinsetzen. Der Zug fuhr der erste Tag, ohne anzuhalten. Ich saß auf meinem Hocker, musste ab und zu mal für einen Moment mich am Fenster halten, um nicht zu fallen. Dann tauschten wir die Plätze mit meiner Frau.

Normalerweise fahren in so einem Abteil 4 Menschen. Zwei unten und zwei oben. In diesem Fall fuhren im Abteil 10 Menschen – 6 Erwachsene und 4 Kinder und ein Hund.

Endlich hielten wir an. Luzk, eine  große westukrainische Stadt. Die Bevölkerung brachte uns Butterbrote, Brötchen und Wareniki mit Kartoffel – ein typisch ukrainisches Gericht. Und sogar Windeln wurden gebracht.  Wissen sie, was die Windeln kosten?-  wunderte sich eine Frau- Wir müssen diesen freiwilligen Helfer sehr dankbar sein! Am nächsten Tag waren wir in Kowel, ganz in der Nähe der polnischen Grenze. Wir mussten lange warten. Der Schaffner sagte, der Vorrang hatten die Züge mit Flüchtlingen aus Mariupol, Kiew, Lemberg  und  Charkiw.

09.03 wir sind in Chelm, Polen. Wir müssen zum Informationszentrum. Langsam bewegt sich unser Zug. Ich kann schon auf meinem Hocker nicht sitzen, stehe im Durchgang mit meinen Stöcken.

Die zweite Nacht verbrachten wir in diesem Abteil. Unsere Nachbarin mit Ihrem gepflegten Pudel bereitete sich auf die Übernachtung auf dem Boden im Durchgang. Vor Ihr saß noch eine junge Frau und auf einem kleinen Teppich neben ihr lag noch ein kleiner Hund. Seine Rasse kenne ich nicht, etwas der war nicht so groß wie Dodo und viel ruhiger.

Plötzlich kommt die Polizei in den Waggon. In der Toilette haben sich zwei Frauen gestritten. Eine hatte geraucht. Die andere rufte de Polizei.

Der Konflikt wurde schnell erledigt. Die Frauen beruhigten sich und die Polizisten kamen zurück. Eine Nachbarin aus unserem Abteil sagte :“Gucken Sie mal auf diesen alten Mann mit Gehstöcken. Er muss an die frische Luft“. In diesem Moment habe ich durch das Fenster auf dem Bahnsteig meine Tochter gesehen. Sie winkte. Mit ihrem Mann kamen sie zur polnischen Grenze aus Rösrath, um uns abzuholen. Mit meinen Gehstöcken konnte ich nicht runtergehen. Der Polizist nahm mich auf die Arme und stellte auf die Erde. Auf die polnische Erde. Der Schwiegersohn rollte ein ausgeliehener Rollstuhl, ich setze mich hin, keine Erfahrung zum Lenken, langsam schoben sie mich zu diesem Informationszentrum. Hinter dem Tisch saß eine polnische Zollbeamtin, sagte streng: „Reisepässe“.  Ich zögerte, die habe ich in meiner inneren Tasche versteckt. Ich merkte, die Beamtin wurde angespannt, das verstand ich, so viel Menschen standen in der Schlange und ich zögerte. Endlich holte ich unsere Reisepässe, die Beamtin guckte sie an, dann stempelte ab  - wir sind frei!

Das Mittagessen in McDonalds und wir fuhren  weiter. Ein paar Stunden. Dann hatte die Tochter ein Hotel gebucht. Eine Übernachtung in Ruhe. Ich träumte einen prophetischen Traum: Ich hoffe, wir sind auf unsere Datscha in Saporoshje. Der Frühling, im Garten blühen Aprikosenbäume. Im letzten Jahr habe ich sie gut abgeschnitten und die Bäume sind voll von Blüten. Noch ein paar Stunden fahren wir. Und am Abend den. 10. März waren wir bei unserer Tochter Zuhause. Und am nächsten Tag, am 11 März hatte die Tochter Geburtstag. Und wir die Eltern haben den schweren Weg geschafft. Viele alte Beschwerde haben sich verschlechtert, aber wir haben den schweren Weg geschafft."      

Viktor Pedak - Ein freier ukrainischer Journalist, jetzt ein Flüchtling

 

 

Sein Ziel ist es, schicksalhafte menschliche Begegnungen zwischen Deutschen, Russen und Ukrainern im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit vor dem Vergessen zu bewahren. In jahrelanger Arbeit hat er Briefe und Erfahrungsberichte zusammengetragen und diese der Öffentlichkeit in einem Buch zugänglich gemacht.

In einer Reihe von online-Beiträgen für den Verein Bayern liest e.V. erzählt er davon. Diese finden Sie auf unserem Vimeo Kanal.

Pedak_Film 1

Pedak_Film 2

Pedak_Film 3

Pedak_Film 4

Pedak_Film 5

 

 

 

Bayern liest