Eine besondere Form der Erinnerung

München leuchtete, das Filmprojekt der KUNSTlinie

bildet inhaltlich Kunst und Kultur zur Jahrhundertwende in München ab, mithin die legendäre Prinzregentenzeit mit ihren Malerfürsten Lenbach, Kaulbach und Stuck. Federführend ist Ulrike Roos von Rosen, es ist ihr siebter Film...

Mit dem Filmprojekt vertritt Ulrike Roos von Rosen den Anspruch, damit zugleich Integrationsarbeit zu betreiben. Flüchtlinge vor allem aus der Ukraine, aber auch aus Afghanistan und dem Iran, die sie in Weßling betreut, werden in die Filmarbeiten mit einbezogen. Man kann sich im ersten Augenschein fragen, ob es nichts Wichtigeres gibt im Einsatz für Flüchtlinge – ich selbst war z. B. zunächst eher skeptisch, wurde dann aber bald eines Besseren belehrt, etwa schon bei den Kostümproben im „Seehäusl“, einer Einrichtung der Nachbarschaftshilfe Weßling.

Allein bei den Kostümproben verwandeln sich diese Geschlagenen mit den traurigen Gesichtern wieder ein Stück weit in sozusagen normale Menschen, als würde ihnen mit den anderen, historischen Kleidern auch wieder etwas Würde zurückgegeben. Im Spiel an den Drehtagen setzt sich diese Verwandlung fort: Sie tauchen in eine ganz andere Welt ein, eben in das München der Jahrhundertwende. Sie entkommen damit zumindest zeitweise nicht nur ihrer eigenen Situation, sondern sie eignen sich dabei zugleich spielerisch unsere Geschichte und Kultur an, indem sie in Rollen schlüpfen, die zu dieser Zeit für das Geschehen wichtig waren. Damit entsteht mit dem Integrations- und Sozialprojekt ein Geschichts- und Kulturprojekt neuer Art: Erinnerungskultur vergegenwärtigt. Damit wird auch die Geschichte und die Gegenwart der Spielorte neu erzählt.

Ulrike Roos von Rosen hatte die Idee zu diesem Projekt und die ungeheure Energie, die es braucht, diese Idee auch Wirklichkeit werden zu lassen. Da steht am Anfang natürlich das Drehbuch, das sie verfasst – u. a. mit dem Aufgreifen der schönen alten Tradition der „Lebenden Bilder“, die in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre eine Rolle spielen, in den Passionsspielen in Oberammergau und jetzt bei diesem Filmprojekt. Von Anfang ist das ganze Projekt wie gesagt als Beitrag zur Integration angelegt, mit entsprechendem Aufwand. Viele ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen ihr allein dafür zur Seite. Anträge auf Förderung müssen gestellt werden, ohne Ende. Kostüme für alle, die mitmachen, wollen aufgetrieben werden – und sie müssen ja auch passen. Spielorte müssen aufgetan werden, da werden ihr und dem ganzen Team auch Tür und Tor geöffnet, so in der Jagdhütte von Kaulbach, auf dem Weg zum Heimgarten gelegen, seine Villa in Ohlstadt, ebenso wie in der Stuck-Villa in München und im Künstlerhaus. Und dann sorgt sie auch noch dafür, dass ihre ganze Mannschaft etwas zu essen und zu trinken hat, Drehtag für Drehtag.

© Gerd Holzheimer



Integrationskunst in Erinnerung an den Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach

„Wir brauchen den Saeid“, hallt es durch das historische Gemäuer vom Künstlerhaus.

„Frau Roos, sollen die Mädchen sich schon umziehen?“, schallt es aus einer Ecke.

„Ich komme erst jetzt rein – oder?“, fragt Gerd Holzheimer alias Gulbransson. Derweil stellt Brigitte Toebelmann fast bedauernd fest: „Frau Roos hat den Prinzregenten im Drehbuch am Schluss doch noch sterben lassen.“ Gleichzeitig klemmt ein Darsteller seinen Gebetsteppich unter den Arm und betet im Kegelzimmer gen Mekka.

Dieses heitere Durcheinander verursachen rund 70 Mitwirkende eines Filmprojekts, das die Zeit um 1912 in einem Fest der Künstler, Literaten und Wissenschaftler im Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz zum Leben erweckt. Initiiert durch die Kulturschaffende und Integrationskünstlerin Ulrike Roos sind bereits drei Filmepisoden entstanden, die den Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach (1850 bis 1920) und seine Freunde aus Kunst, Literatur und Wissenschaft aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Es sind Erinnerungen an einen Künstler, der mit Portraits der Schönen und Reichen berühmt und sehr reich geworden ist. Und an den Vater dreier Töchter und liebenden Ehemann, weiß Roos. Im finalen Filmabschnitt legt sie den Fokus auf die Vorbereitungen zum Künstlerfest, eine international besuchte Veranstaltung der Künstlervereinigung Allotria und der Münchner Künstlergenossenschaft, dessen Mitglied Kaulbach dabei kräftig mitmischte.

Drehbeginn ist der 1. April. Kostüm- und Bühnenbildnerin Johanna Berüter schleppt Kleider und Hüte ins Künstlerhaus, die sie für die Protagonisten ausgesucht und angepasst hat und in die diese jetzt steigen. Eng wird’s im Korsett, das unweigerlich zum fließenden Gewand gehört, das Kostümexpertin Brigitte Günczler originalgetreu geschneidert hat. So eng, dass die Darstellerin der Hedwig Pringsheim sich lieber erst später hineingezwängt hätte – um dann doch den ganzen Tag in Wespentaille ein wahrlich schönes Bild abzugeben.

Der erste Akt spielt im Raum der Allotria. Michael Stephan, ehemaliger Leiter des Münchner Stadtarchivs, sitzt dort einer damals nachempfundenen Versammlung vor. In der Hand einen Fleischklopfer – ein Requisit aus Verlegenheit, denn der Herr des Geschehens braucht ein solches Schlagwerk, beschloss Roos. Das Küchenutensil geht umgehend mit „So, so: Wen willst Du hier weichklopfen?“ ins Drehbuch ein. Das ist nach „Wer fehlt noch?“. Kaulbach natürlich. Und Gulbransson, der durch die Türe stürmt. Und Wassily Kandinsky, dargestellt von Zabiullah Talash aus Afghanistan, der eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Original aufweist. Nur die Turnschuhe passen nicht in die Zeit und werden umgehend durch die schwarzen Schuhe des Freundes ersetzt, der jetzt in Socken dasteht. Daraufhin tritt Kandinsky ins Rampenlicht und verneigt sich formvollendet, während das „Guten Abend, meine Herren! Ich danke für die Einladung“ nach mehreren Anläufen stolperfrei im Kasten ist. Ebenfalls am Versammlungstisch sitzt mit Akteur Saeid Salamat ein begnadeter Karikaturist – wie einst Kaulbach, verrät Kaulbachkennerin Brigitte Toebelmann. Bahadur Adylov kann auch zeichnen. Er stellt Paul Klee dar und soll ein Gemälde erraten, das Gulbransson hochhält. „Ah, dann ist es von Ihnen, Professor“, gelingt mit Blick auf Kaulbach noch ziemlich souverän. Aber wie heißt der Mann schon wieder? „Koilbach“, beschließt er. „Kaulbach“, korrigiert Schauspiellehrerin Sophie Hechler. Daraus wird „Kaibach“ und „Kohlbach“. Mittlerweile tropft dem Sprecher die Heiterkeit tränenreich über die Wangen, flankiert vom fröhlichen Gelächter der anderen. Man einigt sich auf das abgespeckte „Ah, dann ist es von Ihnen“, denn der Professor geht mittlerweile auch nicht mehr.

Das Bilderraten hat die Kunstlehrerin in Rente aus ihrem Fundus an Recherchematerial geangelt und bestimmt, dass die Laien ebenfalls Kunstwerke nachstellen. Den Schleiertanz nach einem Gemälde Franz von Stucks beispielsweise, das Tänzerin Loïe Fuller zeigt, inszeniert von Tanzkünstlerin Eva-Maria Richter. Oder die reizende Schützenliesl, die Kaulbach einst auf einem Bierfass balancierend auf Leinwand bannte. Dazwischen bietet die „Kleinste Bühne der Welt“ ein Rätselbild zu Thomas Manns Tod in Venedig von Jörg Baesecke. Dazu spielt Geigerin Hedwig Rost Mahler. Ein wenig später betören Annette Mühlhans und Thilo Himstedt vom BR-Chor mit einem Liebeslied von Lehar. Alles Darbietungen und Inszenierungen, über der die international besetzte Schauspieltruppe vor laufender Kamera gestenreich brütet.

Tag zwei spielt im Festsaal, den Kaulbach (Schauspieler Florian Volkmann), von den Malertöchtern umdrängt, so oft schwungvoll betritt, bis der Kameramann Tjark Lienke das Ergebnis gutheißt. Die muntere Truppe erreicht Gattin Frida Kaulbach, die Roos in ihrem Drehbuch der Ukrainerin Nataliia Shpuliar zugeschrieben hat, der die deutsche Sprache noch etwas schwer auf der Zunge liegt. Ihr Text „Das ist keine schlechte Idee“ gelingt erst etwas holprig. Die Schauspiellehrerin hilft ihr auf die Sprünge, der Kameramann geht auf Nahaufnahme. Das nächste “Keine schlechte Idee“ kommt ihr schon leichter über die Lippen und irgendwann gesellt sich sogar ein tröstender Unterton für die tierliebende Tochter hinzu, die das echte Spanferkel als Preis unbedingt mit einem Marzipanschwein ersetzen will.

„Auf diese Weise lernen die Geflüchteten unsere Kultur und unsere Sprache kennen“, sagt Ulrike Roos. Ein listiger Hintergedanke, der die Erinnerungen nebenbei zum Integrationswerk macht und Menschen aus aller Welt den Maler Kaulbach näherbringt. Das Projekt hat Kaulbach zu grenzüberschreitendem Ruhm verholfen: von Weßling bis Ohlstadt, wo der Maler zuletzt lebte; von München bis Syrien nach Afghanistan, hinein in den Iran, die Ukraine und die Schweiz. Und ein Trinklied unter Anleitung von Improvisationsmusiker Florian Schwartz ist dabei auch noch rausgesprungen: „Ein Hoch auf die Kunst – Allotria hoch“, jubeln die Darsteller, bevor Kaulbach in einem Brief den Tod des Prinzregenten verkündet.

© Michèle Kirner-Bernoulli

Eine besondere Form der Erinnerung

zurück
Die Familie Kaulbach: Friedrich August (Florian Volkmann), Frida (Nataliia Shpuliar) und die Töchter Doris, Hedda und Mathilde (Marina, Sarah und Emily) diskutieren, ob das Spanferkel als Preis vielleicht doch durch ein Marzipanschweinchen ersetzt werden sollte. © Michèle Kirner-Bernoulli
Zabiullah Talash sieht dem Maler Wassily Kandinsky zum Verwechseln ähnlich. © Michèle Kirner-Bernoulli